CDU und CSU schauen etwas entspannter als noch vor fünf Wochen auf die Bundestagswahl. Die Umfrage-Werte für die Grünen und ihre Spitzenkandidatin Annalena Baerbock tendieren von Euphorie zu normal. Unions-Spitzenkandidat Armin Laschet ist zuversichtlich, die Bundestagswahl zu gewinnen und als Nachfolger von Angela Merkel der nächste Bundeskanzler zu werden. Vor zuviel Selbstgewissheit sei gewarnt: CDU und CSU droht der Willy-Brandt-Moment, in dem aus Gewinnern binnen Sekunden plötzlich Verlierer werden.
Ältere Semester wie ich erinnern sich noch gut an den Abend der Bundestagswahl am 28. September 1969. CDU/CSU und SPD hatten drei Jahre Große Koalition hinter sich. Bei der Bundestagswahl standen sich Bundeskanzler Kurt-Georg Kiesinger (CDU) und Außenminister Willy Brandt (SPD) als Spitzenkandidaten gegenüber.
Aus Unions-Sicht lief der Wahlabend nach Wunsch: CDU und CSU erlitten zwar leichte Verluste (-1,5), wurden aber mit 46,1 Prozent klar stärkste Partei vor der SPD, die 42,7 Prozent erreichte (+3,4). Bundeskanzler Kiesinger fühlte sich wiedergewählt. Nicht nur das Wahlergebnis gab ihm Sicherheit, sondern auch ein Anruf aus Washington: Der damalige US-Präsident Richard Nixon gratulierte seinem deutschen Verbündeten zum Wahlsieg. Kiesinger erklärte sich voller Selbstbewusstsein zum Wahlsieger.
Er hätte vorsichtiger sein müssen. Schon gegen 22:20 Uhr traten Willy Brandt und der damalige FDP-Chef Walter Scheel gemeinsam im Bonner Kanzler-Bungalow auf. Das hätte ihn schon misstrauisch machen sollen. Gegen Mitternacht dann ließ Willy Brandt live im Fernsehen die Bombe platzen: „Ich habe die FDP wissen lassen, dass wir zu Gesprächen mit ihr bereit sind“. Brandt sagte, eine „Koalition der Verlierer wäre keine angemessene Folgerung“ aus dem Wahlergebnis: „Die FDP hat stark verloren, die CDU hat schwach verloren. Einer der stark verliert und einer der schwach verliert sind Verlierer. SPD und FDP haben mehr als CDU und CSU. Das ist das Ergebnis.“
Brandt behauptete, die SPD sei die stärkste Partei – und rechnete damals CDU und CSU als getrennte Parteien, obwohl sie im Bundestag eine gemeinsame Fraktion stellen. (Nach der verlorenen Bundestagswahl 2005 wärmte Franz Müntefering übrigens diesen Taschenspielertrick von Brandt noch einmal auf und versuchte, den Wahlverlierer Gerhard Schröder zum Wahlgewinner zu machen. Und scheiterte damit an Angela Merkel und CDU/CSU.)
Was bedeutet das nun für Armin Laschet? Er hat zwar gute Chancen, Bundeskanzler zu werden. Berliner Statistiker haben sogar ein Analyse-Tool entwickelt, demzufolge seine Chancen bei 67 Prozent (Stand: 24.5.2021) liegen.
Es bedeutet, dass Laschet durchaus die Bundestagswahl gewinnen kann und trotzdem nicht Bundeskanzler wird. Selbst wenn die Grünen und Annalena Baerbock am Wahlabend nur als zweitstärkste Partei ins Ziel laufen, können Sie Laschet einen bitteren Willy-Brandt-Moment bescheren und mit SPD und FDP (oder der Linkspartei) die sicher geglaubte Kanzlerschaft doch noch rauben. Laschet hat allen Grund, einen solchen Willy-Brandt-Moment zu fürchten. Noch 18 Wochen lang.
2 Antworten
Stimmt zwar, ist aber nicht neu, denn das wissen Laschet und das Adenauer-Haus seit Wochen. Sie lesen dieselben Umfragen wie alle anderen auch. Und keiner ist realistischer in Bezug auf Wahlergebnisse als jemand, der zuhause mit einer Stimme Mehrheit regiert. Im Übrigen weisen die Memoiren von Helmut Kohl aus, dass am Wahlabend 1969 es in der Union durchaus schon früh dämmerte, was passieren würde, Kiesinger es aber nicht wahrhaben wollte. Da ist Laschet doch wesentlich bodennäher. Viel interessanter wäre zu prüfen, welche Kröten all jene Parteien in Koalitionen ohne die Union schlucken müssten und ob das so viel leichter zustande zu bringen wäre als eine schwarz-grüne/grün-schwarze Bundesregierung.
Ja, Hans-Dietrich Genscher, der alte Trickser, hatte es schon in der Nacht an Helmut Kohl durchgestochen. Aber damals hat ja auf Kohl noch keiner gehört …