„Bild“, Reichelt und der Elefant im Raum

Diesen Text habe ich für die „Süddeutsche Zeitung“ geschrieben. Er wurde zuerst am 21.10.2021 unter der Überschrift „Als die „Bild“-Zeitung den Anstand verlor“ online veröffentlicht, einen Tag später, am 22.10.2021, in der gedruckten Zeitung auf Seite 5 unter der Überschrift „Kein Spaß mehr“.

Friede Springer, Witwe von Verlagsgründer Axel Springer, Vorstands-Chef Mathias Döpfner und der damalige „Bild“-Chef Julian Reichelt am 4. Juni 2018 beim Sommerfest von „BILD hilft e.V“ auf den Wannseeterassen in Berlin – Foto: IMAGO/Eventpress

Es war der Knaller der Woche: Springer-Chef Mathias Döpfner schmeißt Bild-Chef Julian Reichelt raus. Die öffentliche Debatte kreiste nicht nur um die charakterlichen Defizite des Chefredakteurs, sondern auch um den Charakter der Leser: Darf man Bild überhaupt lesen oder gar kaufen? Ja, man darf.

Boulevardzeitungen wurden nicht erfunden, um dem ausgeschlafenen Bildungsbürger gediegenen Lesegenuss zu bereiten. Hauptzielgruppe dieser Zeitungen sind bis heute Leute, die mit Bus und Bahn zur Arbeit fahren. Kurze Texte, viele Bilder. Schnell konsumierbare Schnipsel für die Kaffeepause. Und vor allem: möglichst sensationell. Gern auch übertrieben – bis an die Grenzen des Erlaubten, aber eben auch nicht darüber hinaus.

Streng betrachtet wird eine Boulevardzeitung nie „seriös“ sein können. Sie kann sich bemühen, anständig zu bleiben. Sie ist ja auch eigentlich gar keine Zeitung, sondern ein Unterhaltungsprogramm, das jedem etwas anbietet: dem Politik-Interessierten, dem Fußball-Freak, dem Guten, dem Bösen, dem Ängstlichen, dem Mutigen, dem Voyeur, dem Romantiker. Jeder soll etwas finden, das ihn interessiert, aufregt, niederschmettert oder zum Lachen bringt. Vielleicht sogar einen Trend setzt. Faktenbasierte Emotionen.

Die richtige Mischung aus Fakten, Fiktionen, Tatsachen und Träumereien ist für den Erfolg auf dem Boulevard so wichtig wie das geheime Leberwurst- oder Cola-Rezept. Julian Reichelt hat dieses Rezept nie verstanden, und allein das wäre ein guter Grund gewesen, ihn zu feuern.
Dass sein Rausschmiss sich, wie Axel Springer mitteilt, auf „das aktuelle Verhalten“ stützt (gemeint ist der Verdacht des fortgesetzten Machtmissbrauchs gegenüber jungen Mitarbeiterinnen), ist widerlich genug. Die spektakuläre Offenlegung dieser charakterlichen Deformation von Julian Reichelt verdeckt aber in ihrer öffentlichen Wirkung den Elefanten im Raum: Mathias Döpfner.

Döpfner hat nie verstanden, was das Geheimnis eines Boulevardblatts ist

Der heutige Springer-Chef war früher mal ein begnadeter Musikkritiker, versteht sich bis heute auch als Journalist, kann beeindruckende Texte schreiben. Aber er ist heute eben auch milliardenschwerer Unternehmer, versteht sich als finanzieller und geistiger Erbe des Gründers Axel Springer und wird offenbar von dessen Witwe auch als solcher betrachtet und verehrt.
Dieser Döpfner hat so lange an Reichelt festgehalten, bis der ihn zu beschmutzen drohte. Noch beim Rausschmiss weint Döpfner seinem gefallsüchtigen Adepten nach: „Julian Reichelt hat ,Bild‘ journalistisch hervorragend entwickelt und mit ,Bild Live‘ die Marke zukunftsfähig gemacht.“

Das hat er nicht – und spätestens da sind wir wieder am Anfang: Denn auch Döpfner hat nie verstanden, was das Geheimnis einer Boulevardzeitung ausmacht. Das war schon zu seiner Zeit als Chefredakteur der Hamburger Morgenpost (1996 bis 1998) offensichtlich. Mit dem Intellektuellen Döpfner und dem Intellektuellen-Darsteller Reichelt standen 20 Jahre später zwei auf der Kommandobrücke von Europas größter Zeitung, die den Kompass aus dem Auge verloren haben und in den Nebel der Macht geraten sind.

Wehe, wenn Journalisten Macht verspüren – und sie einsetzen wollen

Alle Journalisten geraten in diese Gefahr, besonders aber die, die auf dem Boulevard unterwegs sind. Sie glauben, dass sie größer werden, wenn sie sich neben einen Großen stellen. Sie können mit Präsidenten, Bundeskanzlerinnen und Ministern sprechen. Erst glauben sie, sie seien auf Augenhöhe. Im nächsten Stadium denken sie, auch sie seien wichtig und mächtig – was ja auch zu einem gewissen Grad zutrifft, denn journalistische Berichterstattung auf der einen Seite löst gelegentlich auch politisches Handeln auf der anderen Seite aus. Da wird es schon gefährlich.

Wenn Journalisten eigene Macht verspüren, ist ihre Integrität bedroht. Verloren sind sie in dem Moment, in dem sie glauben, diese Macht auch einsetzen zu sollen. Schlimmstenfalls sogar für eigene Interessen.

Über diese Grenze ist Döpfner schon 2007 gegangen, als er seine Bild-Zeitung wochenlang eine Kampagne gegen den Mindestlohn für Briefzusteller fahren ließ, weil Springer den Postzusteller PIN kaufen wollte. Unvergessen ist eine „spontane“ Demonstration ausgebeuteter PIN-Zusteller in Berlin, die vor dem Brandenburger Tor „freiwillig“ sangen: „Sechs Euro sind doch auch schon fair!“

Franz Müntefering setzte damals diesen Mindestlohn durch – und Döpfner hasst seitdem Angela Merkel, die er dafür verantwortlich macht, bis heute. Diese Frau kommt aus dem Sozialismus und führt uns in den Sozialismus, davon war Döpfner immer überzeugt. So ist es nur folgerichtig, mit welchen Worten er seinen Bild-Chef Julian Reichelt gegen alle Angriffe jeglicher Art verteidigte: „Er ist halt wirklich der letzte und einzige Journalist in Deutschland, der noch mutig gegen den neuen DDR-Obrigkeitsstaat aufbegehrt.“ Fast alle anderen Journalisten seien zu „Propaganda- Assistenten“ geworden.

Das ist der Ton, den Döpfner und Reichelt auch bei Bild eingeführt haben. Eine unanständige Sprache, die AfD-Wähler und „Querdenker“ bedient. Wenn der Bundespräsident den türkischen Präsidenten empfängt, ist das ein „Staatsbesuch der Schande“. Wenn das Bundesverfassungsgericht zur Rundfunkgebühr urteilt, ist das ein „höchstrichterlicher Kniefall vor den öffentlichrechtlichen Sendern“. ARD und ZDF sind für Döpfner „gebührenfinanzierte Staatspresse“ – was Bild aber nicht hindert, bei der „Staatspresse“ die Hochrechnungen zur Bundestagswahl und die anschließende „Elefantenrunde“ einfach abzufilmen, also für den neuen Sender „Bild Live“ zu klauen.

Wann hat man eigentlich das letzte Mal mit „Bild“ gelacht?

In besseren Zeiten hatten wir mit Bild viel zu lachen. In der Sommerpause haben wir durchgeknallte Krokodile oder Bären als Nachfolger des Ungeheuers von Loch Ness gejagt. Uns Gedanken gemacht, ob Joschka Fischer „zu fett für den Wahlkampf“ geworden ist und Ölgemälde betrachtet, die Bild-Leser liebevoll von Helmut Schmidt gemalt haben.

Dank Döpfner und Reichelt gab es nichts mehr zu lachen. Die Regierung denkt über Monate jeden Tag darüber nach, wie sie uns in der Merkel-Diktatur immer wieder neu quälen kann. Das „Islamismus-Problem“ wird verschwiegen. ARD, ZDF und die großen Zeitungen belügen uns. Die Meinungsfreiheit ist abgeschafft. Das ist die Welt, die Bild uns zeigt.

Reichelt ist weg. Döpfner bleibt. Ob er etwas dazugelernt hat?

10 Antworten

  1. Streiter, ich wusste gar nicht, dass Sie so gut (!!!) schreiben können.
    Inhaltlich gehe ich aber nur zu 50 Prozent konform.
    Vollkommen richtig liegen Sie mit Blick auf die Mischung usw
    und dass Reichelt ein menschliches Arschloch ist und dass Döpfner – ich übersetze es mal jetzt – der größte Blender seit Felix Krull ist.
    Beste Grüße, auch in Ihren Freund Diekmann!
    EK

  2. Eine ausgezeichnete Analyse, lieber Georg. Das Stück ist sehr lesenswert und zeugt natürlich von Deinem profunde Insiderwissen.

  3. Ein erstaunlicher Artikel voller Hass, der auf vielen persönlichen Verletzungen basiert. Es ist ein Armutszeugnis von der Süddeutschen, so einen rachsüchtigen Text gedruckt zu haben, in dem steht, Julian Reichelt habe nie verstanden, wie Boulevardzeitung funktioniert.
    Der zweite Tiefpunkt ist die Häme mit der Streiter auf Diekmann herabblickt, dem er als nächstes das Aus wünscht.
    Wer diesen Text liest, weiß dass Georg Streiter kein glücklicher Mensch ist und noch immer der Ansicht ist, er wäre der einzige, der Boulevardzeitung verstanden hat und deshalb stünde nur ihm alleine der Posten des Chefs von Bild zu.
    Das wirkt nicht sehr reflektiert

    1. Ich weiß nicht, welchen Artikel Sie gelesen haben – dieser kann es eigentlich nicht gewesen sein. Der Name Diekmann z.B. kommt darin gar nicht vor. By the way: Mir geht es prima, und Chef von Bild wollte und will ich nicht werden.

  4. Im Laufe der Jahre (so ab 1984 etwa) beobachtet man eine ganze Reihe von Chefredakteuren, Stellvertretern, Redaktionsdirektoren und Herausgebern, die was mit Redakteur*innen haben. Oder es zumindest versuchen. Was also brach Reichelt das Genick? Er hat gegen die internen Spieleregeln, manchmal auch gute Manieren genannt, verstoßen. Außerdem hat er das Blatt, dass sich seit längerem auf dem Weg nach unten befindet, ruiniert. Vielleicht kehrt jetzt ja guter Journalismus an den Balken zurück. Ich habe da allerdings meine Zweifel, denn die Leute, die für die Stellenbesetzung zuständig sind, sind ja die alten geblieben.

  5. this minimum wage at the time – and since then Döpfner has hated Angela Merkel, whom he holds responsible for it to this day. This woman comes from socialism and will lead us into socialism, Döpfner was always convinced of that. So it is only logical that he used the words he used to defend his Bild boss Julian Reichelt against all attacks of any kind:

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