Pressefreiheit bedeutet nicht Narrenfreiheit

Eigentlich sollte hier eine kritische Würdigung des neuen Fernsehsenders BILD LIVE stehen. Fast vier Tage habe ich mir das Programm beinahe rund um die Uhr angeguckt und mir viele Notizen gemacht.

Aber jetzt kam eine „Breaking News“ dazwischen: BILD-Vize Paul Ronzheimer landet in Kabul. Er wird dort von den Amerikanern sofort eingefangen und wieder weggeschickt.

Und was macht BILD?

Das, was BILD am besten kann. Herumschreien: „Unglaublicher Eingriff in die Pressefreiheit!“

Wirklich? Nein!

DENN: Pressefreiheit bedeutet nicht Narrenfreiheit.

Paul Ronzheimer berichtet vom Flughafen in Kabul und davon, dass die Amerikaner ihn wieder wegschicken wollen. Bei Minute 8:56 sagt Moderator Thomas Kausch: „Das ist ein unglaublicher Eingriff in die Pressefreiheit!“

Seitdem die Taliban die Macht in Afghanistan an sich gerissen haben, überschlagen sich die Ereignisse. Zehntausende bangen um ihr nacktes Leben, sind völlig verzweifelt und wollen das Land verlassen. Drängeln sich in der Hitze am Flughafen von Kabul. Nur wenige kommen durch. Tausende amerikanische Soldaten versuchen verzweifelt, einen militärischen Flugverkehr zu ermöglichen, damit sie und andere westliche Streitkräfte wenigstens ein paar tausend Menschen retten können. Es ist das apokalyptische Ende einer 20-jährigen Intervention des Westens nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001.

Extremsituation in Kabul – dann kommt Ronzheimer und will in die Stadt

Die Nerven liegen blank, die Taliban schießen und morden, die Menschen in Panik. Und es bleiben nur noch ein paar Tage, bis am 31. August der letzte West-Soldat raus muss. Eine absolute Extremsituation. Minütlich verschlechtert sich die Sicherheitslage, Anschläge im Chaos werden befürchtet.

Und dann kommt Paul Ronzheimer.

Will vom Flughafen in die Stadt, um dort für BILD LIVE zu drehen. Muss „hinschauen, wo so viel Dramatisches in Kabul hier passiert.“

Paul Ronzheimer mag ich. Er ist ein bisschen verrückt, aber das bin ich ja auch. Er mag mich aber offenbar nicht mehr (dazu unten ein P.S.). Er weiß üblicherweise genau, was er tut, ist ein sehr erfahrener Kriegsreporter. Sein Chef, Julian Reichelt, rühmt sich, auch ein erfahrener Kriegsreporter zu sein. Beide haben viel erlebt, haben eng mit der amerikanischen Armee zusammengearbeitet, pflegen diese Kontakte und wissen exakt, wie die ticken.

Ich kann verstehen, dass man als Vollblutjournalist dahin will, wo es brennt. Wer diesen Reflex nicht hat, sollte nicht Journalist werden.

Ich kann sogar verstehen, dass man als Vollblutjournalist mal wie im Rausch die Gefahren subjektiv ausblendet, die objektiv drohen.

Als Chef hat man eine Fürsorgepflicht

Ich kann aber nicht verstehen, dass man als Chef seinen Kollegen nicht vor sich selbst schützt. Es wäre die Pflicht von Julian Reichelt gewesen, Paul Ronzheimer zu stoppen. Als Chef hat man eine Fürsorgepflicht. Leider sind gute Reporter später dann sehr schlechte Chefs.

Aber selbst wenn man da die Grenzen sehr großzügig ausdehnen will, muss man nicht nur die Frage beantworten: Wie komme ich da rein? Man muss auch die Frage beantworten: Wie komme ich da wieder raus?

Was, wenn in Kabul irgendeinem Taliban die Nase von Paul Ronzheimer nicht gefällt? Einfach so. Er hat sie doch kennengelernt und weiß, dass die nicht lange fackeln. Er weiß auch ganz genau, wie schnell man da ohne ersichtlichen Grund in irgendeinem Loch verschwindet (wenn es günstig läuft).

Ja – da kann man sagen: Ich nehme das Risiko auf meine Kappe. Das Problem ist nur: Das Risiko verlagert sich im Notfall ganz schnell auf andere – und das sind in diesem Fall die Amerikaner. Die müssen dann einen Hubschrauber samt Besatzung riskieren, um den irgendwo in Kabul in Not geratenen deutschen Reporter rauszupauken.

BILD selbst hat diese Woche darüber geschrieben, welches Trauma die Amerikaner seit 1993 mit sich herumschleppen. Als in Mogadischu zwei „Blackhawk“ Kampfhubschrauber mitten in der Stadt abgeschossen wurden und US-Soldaten ums Leben kamen.

Daran erinnern sich nicht nur Julian Reichelt und Paul Ronzheimer. Daran erinnern sich auch die US-Soldaten, die jetzt in Kabul mit letzter Kraft durchhalten. Und auch der General, der befohlen hat: Sofort wieder raus mit dem Ronzheimer. Das Risiko gehen wir nicht auch noch ein.

Als guter Reporter weiß man, dass eine Geschichte auch mal in die Hose gehen kann. Das akzeptiert man. Und versucht es ein anderes Mal erneut. Ohne sich zum Opfer zu machen.

Eigene Fehleinschätzung wird zu „Angriff auf Pressefreiheit“ umgerubelt

Schäbig dagegen ist, die eigene Fehleinschätzung in einen „Angriff auf die Pressefreiheit“ umzurubeln und dem bisherigen großen Freund in die Schuhe zu schieben.

Hier wirft Paul Ronzheimer den Amerikanern vor, sie wollten „Journalismus aus Kabul verhindern“

Nein, die Amerikaner wollen vermutlich nicht „Journalismus aus Kabul verhindern“, wie Paul Ronzheimer jetzt behauptet. Die Sache stellt sich für mich viel einfacher dar: Ich denke, sie sind ob der Schmach von Afghanistan zutiefst verletzt und enttäuscht. Und haben einfach keinen Bock, noch ein Leben für einen ohne Ankündigung eingeflogenen deutschen Reporter zu riskieren. Dass BILD LIVE dabei vielleicht spannende Geschichten entgehen, ist ihnen völlig wurscht.

„Warum schaltet Angela Merkel sich nicht ein?“

Da mutet es geradezu wie Hohn an, dass in der BILD LIVE-Talkshow „Viertel nach acht“ BILD-TV-Chef Claus Strunz und seine Kollegin Nena Schink das Thema noch ein bisschen überdrehen und Bundeskanzlerin Angela Merkel ins Spiel bringen. Schink: „Ich frage mich – vielleicht ist meine Frage auch ein bisschen dumm – warum schaltet Angela Merkel sich jetzt nicht ein? Wir haben einen mutigen Journalisten aus Deutschland, der da ist. Das erwarte ich von ihr. Sie muss doch auch stolz sein auf Paul Ronzheimer, dass wir deutsche Journalisten haben, die was wagen!“

Ausschnitt aus der Talkshow „Viertel nach acht“ bei BILD LIVE (25. August 2021)

Da mutmaßt Claus Strunz gleich: „Ich glaube ganz ehrlich, dass es Angela Merkel auch ganz recht ist, dass diese Bilder nicht entstehen. Von Deutschen, die irgendwo in einem Keller Schutz suchen. Von Bildern einer Straßenszene, wo vielleicht Leute mit Waffen hantieren. Das ist ihr, glaube ich, ganz recht, dass das nicht passiert, denn es würde sie ja weiter unter Druck setzen. Denn Angela Merkel hat ja Verantwortung für die deutschen Staatsbürger, die dort in diese Situation geraten sind.“

P.S.: Auf der Suche nach Tweets von Paul Ronzheimer habe ich zur Kenntnis nehmen müssen, dass er mich auf Twitter blockiert hat. Ich kenne, Stand heute, nur zwei Personen, die mich auf Twitter blockieren: Paul Ronzheimer und der abgedriftete Boris Reitschuster. Ich finde: Da wächst zusammen, was gar nicht zusammengehört.

P.P.S.: Aus meiner Überdosis BILD LIVE wird auch noch ein Text. Aber nicht mehr heute.

2 Antworten

  1. Kaum zu glauben, wenn‘s nicht so irre wäre, würde ich herzlich lachen. Ihnen, lieber Kollege Streiter, dank ich für den Bericht und die unterhaltsame Kommentierung. Herrjeh. Wär alles lustig, wenn‘s nicht so schaurig wär (bzw. im konkreten Beispiel: peinlich). Die Amerikaner, die insgesamt ja nicht so gut aussehen zur Zeit, machten in diesem konkreten Fall eher eine gute Figur. Weird times…

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