Friedrich Merz, der Sozialtourismus und die „Bild“

CDU-Chef Friedrich Merz und der „Sozialtourismus“ der Ukraine-Flüchtlinge – war das alles nur ein blöder Unfall? Ganz sicher nicht: Es war eine gezielte Provokation, da bin ich mir sicher. Der einzige Profiteur ist die „Bild“-Zeitung.

Jeder weiß, dass ich nicht zu den Fans von Friederich Merz gehöre, dem großen Zampano der CDU. Für mich war er immer einer der letzten Überlebenden des hässlichen Teils der CDU des vergangenen Jahrhunderts. Einer, der vor allem an sich und seinem Rachefeldzug gegen Angela Merkel interessiert war, die ihn 2002 aus dem Amt als Fraktionschef im Bundestag lässig weggerempelt hatte.

Aber als er dann nach seinen Niederlagen um den Parteivorsitz 2018 und 2020 im vergangenen Jahr ein drittes Mal antrat und erfolgreich war, hatte ich die Verzweiflungswahl der CDU-Mitglieder für Steherqualitäten von Merz gehalten. Das schien einen Hauch von Helmut Kohl zu haben. Mit ihm als Oppositionsführer wurden die Debatten im Bundestag lebendiger, ja, sogar interessant. Aber wie es jetzt scheint, hat er deutlich weniger im Kopf als Helmut Kohl. Und noch weniger im Herzen.

Wenn Dobrindt sich vor Merz wirft, müssen die roten Lampen angehen

Spätestens in dem Moment, in dem sich CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt schützend vor Merz wirft („Es kann auch mal ein Satz daneben liegen. Das muss man nicht auf die Goldwaage legen.“), müssen alle roten Lampen angehen. Denn Dobrindt ist Experte auf dem Gebiet, menschliche Schicksale für ein paar Wählerstimmen zu verkaufen. Es ist gerade vier Jahre her, dass er das böse Wort „Anti-Abschiebe-Industrie“ in den Mund nahm – was dann zum „Unwort des Jahres 2018“ gekürt wurde.

Friedrich Merz ist seit 50 Jahren in der CDU, hat alle Höhen und Tiefen des politischen Betriebs erlebt. So einem rutscht nicht irgendetwas heraus. Schon gar nicht, wenn er vom Krawall-Sender „Bild TV“ zur Talkshow „Die richtigen Fragen“ eingeladen wird. Ein Vollblutpolitiker wie Merz überlegt sich vorher ganz genau, welche Worte aus dieser Sendung in die Welt gehen sollen. Sonst wäre er ja kein Vollblutpolitiker.

Merz entschied sich bewusst, die „Buzzwords“ Ukraine und Flüchtlinge zu verknüpfen und setzte auf 100 Prozent Aufmerksamkeit:

„Wir sehen mit großer Besorgnis, dass die Entscheidung der Bundesregierung vom System der Asylbewerberleistung auf das System der Arbeitslosengeld-II-Zahlungen überzugehen im Frühjahr zu erheblichen Verwerfungen auch bei den Flüchtlingen aus der Ukraine führt. Wir erleben mittlerweile einen Sozialtourismus dieser Flüchtlinge nach Deutschland, zurück in die Ukraine, nach Deutschland, zurück in die Ukraine, von denen sich mittlerweile eine größere Zahl dieses System zunutze machen. Da haben wir ein Problem, das größer wird. Wir haben im Frühjahr drauf hingewiesen, dass dieses Problem entstehen könnte – die Bundesregierung hat sich taub gestellt.“

Merz muss sich mangelnde Herzensbildung vorwerfen lassen

Ausgerechnet Menschen, die überstürzt vor dem russischen Bombenhagel aus ihren Häusern und Wohnungen geflohen sind, bezeichnet Merz als „Touristen“, wenn sie unter größter Gefahr vielleicht einmal nachschauen wollen, ob ihr Mann, die Oma in der Heimat noch leben, ob die Wohnung noch steht oder zerstört ist.

Da Merz genau das sagen wollte, was er gesagt hat, muss man ihm mangelnde Herzensbildung vorwerfen.

Übrigens hat sich Merz mit „Sozialtourismus“ eines Wortes bedient, mit dem schon sein nordrhein-westfälischer Parteifreund Günter Krings zur unrühmlichen Berühmtheit wurde: Krings, von 2013 bis 2021 Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesminister des Innern, verwendete diesen Begriff schon 2013. „Sozialtourismus“ wurde in der Folge zum „Unwort des Jahres 2013“ gekürt, weil damit „gezielt Stimmung gegen unerwünschte Zuwanderer, insbesondere aus Osteuropa, gemacht“ wurde, wie die Jury damals in ihrer Begründung schrieb. Da hat Merz ja geradezu Glück, dass dieses unmenschliche Wort nicht ein zweites Mal „ausgezeichnet“ werden kann.

Ein Glücksfall für „Bild“

Für „Bild“ ist die Causa Merz/Sozialtourismus ein Glücksfall: Damit kann man richtig viele Leser, Zuschauer und Klicks „generieren“, wie es so schön heißt. Das ganze Programm abspulen und lange zehren. Erst die gezielte Provokation von Merz. Dann seine Entschuldigung.

Da wird auch der – völlig berechtigte – Wutanfall von „Bild“-Vize Paul Ronzheimer gleich mehrfach als „Content“ verwertet: Schon morgens um 8:07 Uhr twitterte Ronzheimer seine Aufforderung an Merz, sich zu entschuldigen. Merz tat dies auch um 10:11 Uhr, ebenfalls via Twitter (nachdem sein Social-Media-Team um 8:04 Uhr den „Sozialtourismus“ nochmal in die eigene Blase getwittert hatte). Fast zwei Stunden nach der Entschuldigung von Merz veröffentlichte „Bild“ dann um 11:59 Uhr noch einmal einen langen bösen Kommentar von Paul Ronzheimer, in dem er eine Entschuldigung von Merz fordert.

Irgendwie kann „Bild“ sich aber nicht so richtig entscheiden, denn Johannes Boie, seit fast einem Jahr der neue Chef von Paul Ronzheimer, legte einen Tag später mit einem neuen und seltsamen Kommentar („Christlich Demokratischer Umfaller“) nach Merz zeige „wieder seine große Schwäche: Er legt (zu) groß vor, gibt dann schnell klein bei.“ Fazit: „Durchhalten ist seine Sache nicht.“

2 Antworten

  1. Herr Streiter, Sie schreiben: „Es war eine gezielte Provokation, da bin ich mir sicher.“ Mag sein, aber: Welchem Ziel sollte diese Provokation gedient haben? Diese Antwort vermisse ich in Ihrem Artikel.

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